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Essaywettbewerb: Postkarten von zuhause - Was wir in der gewonnenen Heim-Zeit erleben

Postkartensammlung

Postkartensammlung, © Karin Radziwiłł

13.08.2020 - Artikel

Schreiben bringt uns zusammen unter diesem Motto baten wir um kreative Texte, die uns erzählen, wie Sie die vergangenen Monate erlebten. Vielen Dank an alle Teilnehmerinnen! Wir gratulieren herzlich Frau Karin Radziwiłł zum 1. Platz und laden ein, ihre Erzählung zu lesen.

Das ist ja wie im Krieg! - beschwert sich meine Freundin Petra aus dem Rheinland per whats app. Wir beide sind, wohlgemerkt, Jahrgang 1960 und ’61; keine von uns beiden hat je einen Krieg erlebt. Den kennen wir nur aus den Erzählungen unserer Eltern und Grosseltern. Ist die Corona Krise, die derzeit die ganze Welt erfasst hat, schon gleichbedeutend mit Krieg?

Ich habe Glück. Wir haben Platz, viel Platz. Dazu einen grossen Garten und wir wohnen im schönen grünen Zoliborz.

Meine Tochter ist beschäftigt mit home schooling, mein Mann arbeitet von zuhause, ich kümmere mich um Haus und Hof, um zwei Hunde, den Garten, mache die momentan oft zeitaufwändigen Einkäufe und komme ansonsten meinen hausmeisterlichen Tätigkeiten nach.

Endlich Zeit für die Dinge, die ich immer schonmal erledigen wollte! Aufräumen, aussortieren, sich von ‚Altlasten‘ befreien, Raum schaffen für weniger.

Im Jahr 2018 habe ich nach dem Tod meiner Mutter mein Elternhaus in Mönchengladbach aufgelöst und alles, was mir wichtig und lieb und wert war, Autoladung für Autoladung nach Warschau transportiert. Einige Möbel, Bilder, und ja, viel Bestand aus Kindertagen, mit den Kindesbeinen an chronologisch aufsteigend: Teddybär, Puppen, Memory und Monopoly, alle Astrid Lindgren Bücher, Poesiealbum, Barbies, alte Bravohefte, meine Schallplatten und Fotos.

Schallplatten und Fotos! Dazu kommen mehr Schallplatten und Fotos aus den Beständen meiner Eltern und Grosseltern - die Klassikausgaben meiner Düsseldorfer Großeltern, die umfangreiche Jazzsammlung meines Vaters, die gesamte Andre Rieu Kollektion meiner Mutter. Fotos. Aufnahmen, die ins vorletzte Jahrhundert zurückreichen; Alben meiner Urgrosseltern, Großeltern und Eltern.

Dazu jede Menge Kistchen und Kästchen mit noch mehr Fotos, beschriftete Umschläge: „Hochzeit Karin“, „Tante Grete Beerdigung“, „Omas 80ster“.

Ich beginne, meine den Fotos beigefügten Briefe zu lesen, es ist wie ein Tagebuch der vergangenen 25 Jahre, die ich mittlerweile in Warschau lebe.

Hier sticht man in ein echtes Wespennest: Meine Eltern haben natürlich nicht nur meine Briefe aufgehoben, sondern ALLE Briefe, die jemals an sie verschickt wurden, und ALLE Briefe, die sie wiederum von ihren Eltern „geerbt“ haben. Sozusagen ein Briefarsenal der letzten 100 Jahre…

Draussen ist es ruhig. Die Hunde schlafen friedlich, meine Tochter lernt, mein Mann ist im home office.

Ich suche alle Kartons mit Korrespondenz zusammen, setze mich auf den Boden und trete meine Zeitreise an.

Karton 1, Einkaufskorb und Pappschachtel quadratisch, bedruckt im 60-er Jahre Design: Briefe, die zu meiner Lebenszeit geschrieben wurde, also zurückreichend bis Mitte des letzten Jahrhunderts (wie alt hört sich das denn an?).

Ich sichte einen Stapel Postkarten. Postkarten! Wer schreibt die denn heute noch? Darunter ein schönes Exemplar meiner Großeltern aus Ägypten von 1971. Blick auf die Ferienanlage mit angekreuztem „das ist unser Balkon“. Und hier: eine Postkarte meiner eingangs erwähnten Freundin Petra, die sie mir mit 7 Jahren aus dem Urlaub vom Großglockner schickte, noch etwas krakelig, aber immerhin. (Ich denke schmunzelnd an den ersten Brief meines Patenkindes Anna zurück, der da lautete: ‚Liebe Karin, Deine Anna’ - bis heute ein Klassiker). Ich überfliege einige meiner eigenen Postkarten an meine Eltern, aus Frankreich, Italien und England und erinnere mich gerne an diese Urlaube und Kurztrips.

Dann ziehe ich eine andere Ansichtskarte hervor, die mein damaliger Jugendfreund an meine Eltern schrieb.

Ich fasse es nicht. MIR hat der nie geschrieben!

Ich wühle mich weiter zum Boden des Kartons durch. Briefe von Leuten, die ich nicht kenne - direkt weg damit in die blaue Tüte zum Recyceln. Bei den Ansichtskarten tue ich mich etwas schwerer - soll ich daraus mal eine Collage machen? Und dann? Aufhängen? Einen Glastisch oder ein Tablett damit verzieren?

Postkarten von zuhause
Postkarten von zuhause© Karin Radziwiłł

Ich behalte den Gedanken im Falle der Ausweitung des Ausgeh- und Kontaktverbots im Hinterkopf aber mache mich erstmal an

Karton 2, mehr Pappschachteln, jetzt stoffbezogen:

und befinde mich nunmehr in der Zeit vor meiner Geburt.

Mein Vater schickte seiner Mutter Postkarten (gezackte Umrandung) von diversen Fahrradtouren quer durch Deutschland, Schreibstil: ‚Liebe Mutter, Ausrufezeichen!‘. Wiederkehrende Hauptthemen: Wetter, wie ist die Unterkunft, und immer wieder Hinweise auf die Verpflegung, gut/schlecht/reichlich.

Anders die Briefe meiner Mutter: Als ‚Single‘ lebte sie bei ihren Eltern und mit ihren Geschwistern in Düsseldorf. Sie war Verwaltungsangestellte bei der Landesversicherungsanstalt (LVA), wo sie später auch meinen Vater kennen lernte, hatte ein Paddelboot am Rhein und ging abends zum Tanz in den ‚Fleher Hof’.

Von ihrem ersten selbst verdienten Geld unternahm sie tatsächlich eine Busreise nach Bella Italia. Das sehe ich nicht nur anhand der mit Schreibmaschine getippten Bestätigung des Reisebüros (‚Sehr geehrtes Fräulein Hofer…‘), aber auch an jeder Menge Korrespondenz, die meine Mutter nach der Reise von italienischen Verehrern erhielt.

Wow. Hätte ich meiner Mutter gar nicht zugetraut.

Aber wirklich geschockt bin ich, als ich einen Stapel Briefe in die Hand nehme, die an Fräulein Gertrud Hofer adressiert sind, und wohl Antworten auf eine Kontaktanzeige sind. Meine Mutter bei tinder? Ich bin sprachlos. Das hat sie mir nie erzählt. Darf man das lesen?, frage ich mich fast ein wenig geniert. Ich linse vorsichtig in die ersten Zeilen… ‚Du blondes Gift‘… Danke, das reicht mir erstmal.

Meine Güte, Mama!

Vielleicht wende ich mich lieber dem

Karton 3 und den Holzkästchen zu. Auch hier Postkarten, fast dick wie Pappdeckel, aber überwiegend Briefe, teils noch in Sütterlin Schrift, die ich so gerade noch lesen kann.

Wir sind in der Zeit meiner Großeltern, meine Eltern sind noch Kinder, meine Großväter beide im Krieg. Von ihnen stammen die meisten Briefe. Ich trenne erstmal den Düsseldorfer vom Mönchengladbacher Opa und versinke in einer Zeit, die ich Gottseidank nie gekannt habe.

Mein Großvater aus Düsseldorf war während des Krieges hauptsächlich als Fahrer in Italien unterwegs, kein Dienst an der Waffe, ich glaube, er hatte eher ein ‚ruhiges‘ Soldatenleben, wenn man das so nennen kann.

Er schreibt liebevolle Briefe an meine damals etwa 10jährige Mutter und ihre jüngere Schwester, legt für die Mädchen rotes Satinband bei, sie sollen sich davon für ihre langen Zöpfe Haarschleifen machen. Ich blicke auf das Foto meiner Mutter, das sie zusammen mit ihrer Schwester an derer beider Kommunionstag zeigt, allerdings mit weissen Schleifen. Die Kommunionkleider hatte meine Oma teils aus Bettlaken selbst genäht.

Foto der Schwestern
Foto der Schwestern© Karin Radziwiłł

Mir fällt auf, dass ihr Bruder, also mein Onkel, zu dem Zeitpunkt noch gar nicht geboren war; er ist ein echtes Nachkriegskind und 14 Jahre jünger als meine Mutter. Meine Oma war zum Zeitpunkt seiner Geburt 44 Jahre, das ist schon besonders, und nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren erst recht.

Im Moment halten also die Frauen die Stellung zuhause, d.h. nicht ganz, denn der kranke und bettlägerige Vater meines Opas lebte vorübergehend mit im Haushalt, und meine Oma kümmerte sich während der kriegsbedingten Abwesenheit ihres Mannes noch mit um den Schwiegervater.

Meine Mutter hat mir einmal erzählt, dass sie ihn während der nächtlichen Bombenangriffe, von denen Düsseldorf heimgesucht wurde, in der Wohnung oben zurücklassen mussten, wenn sie in den Luftschutzraum fliehen mussten. Meine Oma konnte den schweren Mann nicht aus dem Bett heben und in den Luftschutzkeller tragen, sondern nur beten, dass er den Angriff überlebt. Als sie einmal nach überstandenem Fliegerangriff zurück in die Wohnung kamen, waren die Türen durch den Luftdruck rausgeflogen, und mein Urgroßvater lag in seinem Bett unter der Wohnzimmertür. Er hat alle Bombenangriffe heil überstanden, was wie ein Wunder ist, wurden doch die Häuser rechts und links neben dem Wohnhaus meiner Großeltern durch die Bomben zerstört…

Ich bin noch im Besitz eines „Zeitzeugen“ jenes Angriffs, eine alte Standuhr aus Holz, die in jener Nacht von einem Bombensplitter gestreift wurde, immer noch gut an der Seite sichtbar.

Ich lege die Düsseldorfer Großeltern zur Seite und wende mich dem Opa aus Mönchengladbach zu.

Ich habe ihn leider nie kennen gelernt; er fiel am 5. Oktober 1943, 37 Jahre alt, in der Nähe der damaligen Ostfront und wurde auf dem Divisionsfriedhof in Pelgora bei Ljuban, südlich von St. Petersburg, beigesetzt. Er war Buchhalter, und während des Krieges für die Besoldung der Truppe verantwortlich. Ich besitze einen ganzen Karton seiner Briefe, die er fast täglich an meine Oma schrieb, meistens nachts bei Kerzenlicht.

Nach seinem Tod erhielt meine Großmutter per Feldpost Einschreiben - (das ist ein beschriftetes Leinensäckchen) - seine Sachen zugeschickt:

1 Trauring im Nähkasten

1 Taschenkalender

1 Feuerzeug

1 Zahnpaste

5 Taschentücher

1 Nähzeug.

Ich lege die Briefe und Postkarten fein säuberlich geordnet zurück in ihre Schachtel und tauche wieder in meine Zeit ein.

Corona Krise 2020. Kriegsähnliche Zustände?

Es herrscht Frieden. Ich bin dankbar, dass es uns gut geht. Die Lebensmittelläden sind voll, die modernen Medien ermöglichen uns Kontakt auf Distanz.

Mit der momentanen Zwangsentschleunigung komme ich gut zurecht.

Meckern wir nicht immer, dass die Zeit rast und wir keine Zeit haben? Ich empfinde das derzeitige Tempo als angenehm. Es macht mir gar nichts aus, dass ich 20 Minuten vor dem Supermarkt anstehen muss, um eingelassen zu werden.

Diese Zeit musste ich vorher auch aufwenden, nur drinnen, an der Kasse. Manchmal so lange, dass einem die Tiefkühlware wieder auftaut.

Einer hat die Bananen nicht abgewogen, ein anderer bezahlt mit gesperrter EC-Karte, oder die Kassiererin kann nicht rausgeben. Mir ist es auch schon passiert, dass der Kunde vor mir erstmal zum Geldautomaten schlurfte, um Geld zu ziehen.

Jetzt kann man in aller Ruhe vor dem Einkaufen in der Schlange seine e-mails checken, Fotos löschen oder Beckenbodentraining machen. Im Supermarkt kein Gedränge und freie Fahrt an der Kasse.

Mein Blick schweift über mein Bücherregal. Dort das eingerahmte Foto meiner besten Freundin und meines besten Freundes aus den 1980-er Jahren, beide in Lederjacken. Ein paar Bücher weiter ein Foto von meinem Vater und mir in London, glücklich lächelnd vor der Tower Bridge.

Foto der Autorin mit ihrem Vater in London
Foto der Autorin mit ihrem Vater in London© Karin Radziwiłł

Ich könnte mal wieder eine Postkarte verschicken…


Karin Radziwiłł Warschau, im April 2020

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